Leinen Los! - Ableger

[Tjeika]

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Am Hafen von Lübeck
4. Juli 1517, früher Morgen
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Kara kam sich klein vor. Klein und unfähig. Sie hatte sich gefühlt, wie sich ein Kind halt so fühlt, wenn es mal mit den Dingen der Erwachsenen spielen durfte. Doch bei John wirkte es, wie er da am Steuer stand, als gehörte er genau dort hin. Es wirkte genauso, wie es bei ihrem Vater wirkte. Ein beeindruckendes Bild.
"Irgendwann wirst du dein eigenes Schiff haben", entfuhr es ihr und in ihrer Stimme klang eine solche Sicherheit mit, als würde sie ihm sagen, dass Regen nass sei.
Es war beinahe eine Selbstverständlichkeit. Und ein Seitenblick auf ihren Vater bestätigte ihre Ahnung.
"Ohja", entfuhr es ihm.
Und auch er wirkte, als wäre er überrascht.

[Ayrina]

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Am Hafen von Lübeck
4. Juli 1517, früher Morgen
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John sah die beiden überrascht an und fragte sich, ob sie Gedanken lesen konnten. Er fühlte sich ein wenig unwohl und überspielte es mit einem kleinen Lachen.
"Ja, vielleicht, aber bis ich mir das leisten kann werde ich noch viele Seile reparieren und eine Menge Segel flicken müssen", grinste er und noch immer umschlossen seine Finger fest und sicher das Steuerrad. Er hatte immer gewusst, dass er in seinem Herzen ein Seemann, ein Pirat war, doch jetzt wusste er auch genau, was sein Platz sein würde.
Ja, ich werde ein Schiff haben. Und wenn es das letzte ist, was ich tu, nahm er sich fest vor und fragte sich, ob er wohl irgendwann, wenn sie wirklich auf Fahrt waren, noch einmal das Steuer übernehmen durfte. Irgendwann, für einen kurzen Augenblick... Er nahm sich vor, alles dafür zu tun. Dankbar sah er Kharecha an.
"Vielen Dank, Sir", sagte er aufrichtig.

[Tjeika]

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Am Hafen von Lübeck
4. Juli 1517, früher Morgen
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"Das sieht wirklich beeindruckend aus", vernahm Kara eine Stimme von hinten.
Und ihre Gehirnwindungen identifizierten diese Stimme nach wenigen Sekunden, als die von Andres.
"Wollen wir dann ablegen? Die Männer sind schon ganz nervös", fragte Stian, der wohl bei Andres stehen musste.
"Leinen los", rief Kharecha.
"Wir drei packen das hier schon", ergänzte ihr Vater.
Und Karas Blick wanderte verwundert und erschrocken und doch glücklich zugleich zu ihrem Vater, der seine Worte, wie fast immer, todernst meinte.

[Ayrina]

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Am Hafen von Lübeck
4. Juli 1517, früher Morgen
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John war jemand, der sich immer im Griff hatte. Zumindest hatte er das bis zu diesem Moment fest geglaubt. Doch bei Kharechas Worten klappte sein Mund auf und er sah den Kapitän fassungslos an, ehe ein Grinsen auf sein Gesicht schlich. Sein Herz schlug vor Aufregung und Nervosität bis zum Hals und er trat einen Schritt beiseite, um Kharecha den Platz am Steuer freizumachen. Dabei achtete er intuitiv darauf, das Steuerrad nicht aus der Hand zu geben, bevor jemand anders es ergriffen hatte. Dass er mit Kara und ihrem Vater hier am Steuer stehen durfte, während sie ablegten war die Erfüllung eines Traumes, vond em er bisher nicht gewusst hatte, dass er ihn hatte.
"Bitte Sir", sagte er lächelnd und sah Kharecha dankbar an.

[Tjeika]

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Am Hafen von Lübeck
4. Juli 1517, Morgen
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Kharechas und auch Karas Blick - wie wahrscheinlich auch die fassungslosen Blicke von Andres und Stian, wobei Stian eher beeindruckt und Andres eher erschrocken war - wanderten zu John.
"Ich habe nicht um das Steuer gebeten. Du willst doch was lernen, oder? Ich sage dir, was du zu tun hast und greife im Notfall ein. Sobald wir ein paar hundert Meter von Hafen weg sind, wird Kara übernehmen. Beim nächsten Mal dann umgekehrt", sagte Kharecha bestimmend.
Und sein Tonfall war so klar und eindeutig, dass es definitiv einem Befehl glich. Längst vergessen war, dass Kara eigentlich sauer auf John war. Nun blickte sie ihn ehrfürchtig und auch ermutigend an.

[Ayrina]

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Am Hafen von Lübeck
4. Juli 1517, früher Morgen
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John konnte sein Glück kaum fassen und strahlte über das ganze Gesicht. In seine Augen blitzte Entschlossenheit und Tatendrang. Er würde Kharecha nicht enttäuschen und erneut schlossen seine Hände sich fest um das Steuer. Er sah kurz zu Kara, zwinkerte ihr glücklich zu und fühlte sich wie ein König. Er durfte ein Schiff steuern. Unter Aufsicht und Anweisung zwar, aber was machte das schon? Ungeduldig wartete er darauf, bis alle Leinen gelöst und alle Männer an Bord waren. Dann atmete er tief durch. Es ging los.
Instinktiv schlug er das Steuer ein klein wenig ein, so dass sie von der Kaimauer wegkamen und als langsam Bewegung in das Schiff kam, glaubte John, vor Glück platzen zu müssen.

[Tjeika]

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Am Hafen von Lübeck
4. Juli 1517, Morgen
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"Sehr schön, ein wenig nach Backbord einlenken", kommandierte Kharecha, nicht ohne Stolz in der Stimme.
Er schien John zu mögen, denn er hatte noch nie einem Frischling nach nur einem Tag gestattet, das Steuer zu halten. Er gab es ohnehin selten aus der Hand. Bisher waren es nur Stian, Thies und Andres, die je das Steuer hatten halten dürfen.
"Nun noch ein wenig Steuerbord und dann lass sie ein wenig im Wind gleiten", sprach Kharecha weiter.
Kara beobachtete genau, was John tat. Nur ganz selten glitten ihre Augen von seinen Händen, die das Steuer fest und sicher entschlossen hatten, zu seinem Gesicht. Er wirkte wahrlich glücklich, dort wo er stand und bei dem, was er da tat. Kara entlockte dies ein zufriedenes Lächeln.

[Ayrina]

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Am Hafen von Lübeck
4. Juli 1517, Morgen
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Nie hatte John etwas Vergleichbares gefühlt. Er spürte deutlich die Bewegungen des Schiffs unter sich und befolgte Kharechas Anweisungen genau. Noch war es ruhig im Hafen und sie hatten freie Fahrt. Ohne Schwierigkeiten lenkte John die India aus der schmalen Hafeneinfahrt und langsam konnte er das offene Meer vor sich sehen. Am liebsten hätte er das Steuer nie wieder aus der Hand gegeben. Das kühle Holz unter seine Hand fühlte sich an, als gehörte es genau dort hin. Er wandte nicht einmal den Blick vom Meer ab. Hin und wieder sah er ein wenig nach rechts und links, ob sie auch auf beiden Seiten genug Platz hatten, doch seine Aufmerksamkeit ließ keine Sekunde nach. Er wünschte, dieser Moment würde nie enden. Ein leises Flattern ließ ihn kurz überrascht den Kopf heben und er erkannte, dass das Großsegel einen kleinen Riss hatte. Nichts Schlimmes, doch John beschloss, ihn zu reparieren, ehe er größer wurde und ihnen zum Verhängnis werden konnte. Dann sah er wieder nach vorn und genoss die Aussicht, wie die India sich elegant durch das blaue Meer schob.

[Tjeika]

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Am Hafen von Lübeck
4. Juli 1517, Morgen
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"Du hast wirklich Talent", sprach Kharecha und auch von Andres und Stian kam ein zustimmendes Raunen.
Und dies musste wahrlich etwas bedeuten, immerhin geizte Andres meist mit Anerkennung und Lob.
"Großartig", stimme Kara wild nickend zu und grinste John an.
"Jetzt du, Kara", sprach Kharecha und schob sie sanft an das Steuer.
"Niemals loslassen, bis derjenige, dem du das Steuer übergibst, nicht beide Hände am Rad hat", sprach Kharecha an John gewandt.

[Ayrina]

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Am Hafen von Lübeck
4. Juli 1517, Morgen
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John hatte das Steuer ohnehin noch nciht losgelassen. Er hatte gesehen, welche fatalen Folgen es haben konnte, wenn ein Steuermann zu früh losließ. Diesen Fehler würde er nicht machen. Mit einer Mischung aus Bedauern und tiefer Dankbarkeit ließ er das Steuer los und lächelte Kara aufmunternd zu. Er trat einen Schritt beiseite, um ihr und ihrem Vater Platz zu machen und noch immer lag das strahlende Lächeln auf seinem Gesicht.
"Vielen Dank, Sir", sagte er zum gefühlt hundertsten Mal an diesem Morgen und wusste doch, dass diese Worte seine Dankbarkeit nicht ansatzweise ausdrücken konnten.
"Dies ist mit Abstand der beste Tag meines Lebens", fügte er grinsend und vor Glück schier platzend hinzu.