Leinen Los! - Ableger

[Tjeika]

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Am Hafen von Lübeck
4. Juli 1517, früher Morgen
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Kara und Kharecha waren früh aufgestanden an jenem Morgen. Es war meistens so, dass sie früher als alle anderen aufstanden. Merkwürdigerweise wachten sie auch meist zur gleichen Zeit auf. Kara nahm an, dass das wohl so ein Vater-Tochter Ding war. Nun jedenfalls waren sie auf dem Weg zum Oberdeck. Dies war die einzige Zeit, bis auf den Abend, die sie alleine miteinander hatten. Und Kara liebte es einfach, ein wenig Zeit mit ihrem Vater alleine verbringen zu können.
"Und ärger Andres heute nicht allzusehr", sprach er, als er die Türen, die nur des Nachts verschlossen waren, zum Oberdeck öffnete.
"Willst du damit ihn oder mich schonen?", fragte sie schmunzelnd.
"Ich habe kein Problem damit, das Deck zu schrubben", ergänzte sie.
"Ich aber. Ich will nicht, dass mein einziges Kind tagsüber nichts anderes tut, als das Deck zu schrubben. So lernst du nichts", erwiederte ihr Vater, als sie sich Richtung Steuer aufmachten.
"Außerdem sollst du mir sagen, wenn er dich wieder dazu verdonnert. Besonders dann, wenn du nur auf den Mast geklettert bist. Das ist kein Verbrechen, auch wenn Andres das vielleicht anders sieht", fuhr er fort und legte einen Arm um ihre Schultern.
"Und lass dich nicht von Karl und Thomas ärgern. Noch eine solche Aktion, wie gestern und ich lasse sie kielholen", grummelte er in seinen Bart und Kara blickte erstaunt zu ihrem Vater.
Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er davon gehört hatte.
"Guck nicht so, ich habe meine Ohren überall", grinste er - sein Grinsen war wohl ansteckend.
"Und meine Augen auch. Guten Morgen, John", sprach Kharecha und Kara erschrak leicht.
Sie hatte ihn nicht gesehen, wie er dort an der Reling stand. Kharecha schien recht zu behalten. Er sah wirklich alles.

[Ayrina]

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Am Hafen von Lübeck
4. Juli 1517, früher Morgen
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John hatte sich einw enig aufgerichtet, als Kharecha und Kara das Deck betraten.
"Guten Morgen, Sir", sagte er lächelnd und nickte dann auch Kara zu.
"Guten Morgen", fügte er in ihre Richtung lächelnd hinzu. Dann sah er wieder auf den noch wolkenlosen Himmel und runzelte die Stirn einw enig.
"Ich denke es wird heute abend ein Unwetter geben", sagte er ruhig. Der Himmel hatte eine Farbe, wie er sie häufig vor Stürmen hatte und das Meer lag ein wenig zu ruhig da.
Johns Onkel hatte ihm früher immer erzählt, sein Urgroßvater hätte die Gabe gehabt, Stürme vorauszusagen. John hatte es jahrelang für eine wunderbare, seltene Gabe gehalten, doch inzwischen wusste er, dass es nichts anderes, als genaue Beobachtung war. Sehr genaue Beobachtung, aber dennoch nur Beobachtung.

[Tjeika]

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Am Hafen von Lübeck
4. Juli 1517, früher Morgen
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"Ich denke, du wirst recht behalten", sagten Kara und Kharecha gleichzeitig, was Kara ein schmunzelnd entlockte.
Doch dann fiel ihr ein, dass sie ja eigentlich wütend auf John war und das Lächeln erstarb sofort wieder. Kara drehte sich wieder zum Steuer um.
"Wenn du möchtest", begann ihr Vater und deutete auf das Steuerrad.
In Karas Augen begann es zu funkeln. Noch niemals zuvor hatte sie das Steuer bedienen dürfen.
"Aber nur, bis Andres oder Stian wach sind", fügte ihr Vater mit gespielt strengem Ton hinzu, während Kara ehrfürchtig ihre Hände an das Rad legte.

[Ayrina]

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Am Hafen von Lübeck
4. Juli 1517, früher Morgen
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John unterdrückte ein Seufzen. Sie war also noch immer sauer auf ihn. Doch er würde sich nicht bei ihr entschuldigen. Nicht dafür, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Also warf er ihr einen kurzen Blick zu und ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er das kleine Mädchen an dem großen Steuerrad sah, ehe er sich ein paar Seile schnappte und begann, die gerissenen Enden zu reparieren. Er war kein Freund davon, untätig rumzustehen und musste fast immer seine Hände beschäftigen. Und diese Arbeit konnte er. Immer wieder hörte er die leisen Stimmen von Kara und ihrem Vater. Lächelnd sah er auf. Es war ein friedliches Bild und John kam sich wie ein Eindringling vor. Ein wenig hilflos sah er sich um, ehe er sich erhob und beschloss, den beiden ein wenig Privatsphäre zu gönnen und am Bug weiterzuarbeiten.

[Tjeika]

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Am Hafen von Lübeck
4. Juli 1517, früher Morgen
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Kara fühlte sich wahrlich wohl hier. Es gefiel ihr sehr, am Steuer stehen zu dürfen. Immer mal wieder korrigierte Kharecha ihre Haltung oder erzählte ihr, was sie bei verschiedenen Situationen zu tun hatte. Und Kara gab sich alle Mühe, auch wirklich alles im Kopf zu behalten.
Kara hörte, wie sich Schritte entfernten und seufte erleichtert auf. John ging endlich weg. Es wurde auch Zeit, sie wollte ihn nicht in ihrer Nähe haben. Zumindest nicht, bis er sich entschuldigt hatte.
"John, warte", rief dann plötzlich ihr Vater - was ihr wiederum einen Seufzer entrang, doch diesmal einen eher gequälten - ehe er sich zu dem Jungen umwandt.
"Hast du sowas schonmal gemacht?", fragte Kharecha.
Kara wagte es gar nicht erst, sich zu John umzudrehen.

[Ayrina]

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Am Hafen von Lübeck
4. Juli 1517, früher Morgen
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John drehte sich ein wenig überrascht um und blickte dann auf die Seile in seiner Hand.
"Ja, Sir", sagte er und hob wieder den Blick.
"An die hundert Mal", fügte er mit einem leichten Grinsen hinzu. Es war das erste, was er gelernt hatte und es gab weit schlimmere Arbeiten auf einem Schiff. Er sah kurz zu Kara und lächelte ihr zu, doch sie ignorierte ihn noch immer.

[Tjeika]

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Am Hafen von Lübeck
4. Juli 1517, früher Morgen
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Kharecha lachte. Kara liebte das Lachen ihres Vaters. Es war rau, wie die See, aber genauso ehrlich, wie die See tief war.
"Ich meinte nicht das", sagte er und deutete auf die Seile in Johns Hand.
"Ich meinte das hier", und damit deutete er auf das Steuer.
Kara seufzte leise und trat einen Schritt beiseite. Das war es dann wohl mit ihrer gemeinsamen, alleinigen Zeit mit ihrem Vater.
"Komm' her und lerne, Junge", sprach Kharecha weiter und winkte John heran.

[Ayrina]

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Am Hafen von Lübeck
4. Juli 1517, früher Morgen
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John sah zu Kara und fühlte sich plötzlich in einer Zwickmühle. Die Aussicht, das Steuer halten zu können, ließ seine Augen strahlen, doch Karas Blick war eindeutig. Er wollte sie nur ungern noch mehr verärgern, doch dem Kapitän zu widersprechen war mehr als nur dumm.
"Vielen Dank, Sir...", begann er und sah wieder kurz zu Kara, ehe er die Schultern straffte.
"Aber wenn wirklich ein Sturm kommt, sollten diese Seile dringend repariert werden", versuchte er einen Ausweg aus der Situation zu finden, der nicht einen von beiden vor den Kopf stieß.
Du dämlicher Idiot, schalt er sich. Er wird es dir nie wieder anbieten und dich wahrscheinlich gleich hochkant vom Schiff jagen.
Doch aus irgendeinem Grund würde es ihm mehr zu schaffen machen, Kara noch weiter zu verärgern. Seine Finger schlossen sich fester um die Seile und es kostete ihn alle Kraft, entschlossen und nicht enttäuscht dreinzublicken.

[Tjeika]

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Am Hafen von Lübeck
4. Juli 1517, früher Morgen
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Kharecha winkte John ein weiteres Mal heran.
"Kara wird sich wieder beruhigen, nun komm' her und lerne was. Du bist doch hier, um was zu lernen, oder?", sprach er und Kara warf ihm einen erschrockenen Blick zu.
Er sieht und hört wirklich alles!, schoss es ihr durch den Kopf und sie trat noch einen Schritt beiseite, als Zeichen dafür, dass es in Ordnung war. Mehr oder weniger. Eher weniger. Aber ihren Vater vor den Kopf stoßen, das war so ziemlich das Letzte, was sie wollte.

[Ayrina]

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Am Hafen von Lübeck
4. Juli 1517, früher Morgen
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Einmal widersprechen war eine Sache, zweimal glich blankem Selbstmord. Also legte er die Seile an der Reling ab und trat zum Steuerrad. Nach einem letzten, fragenden Blick auf Kharecha schloss er seine Finger fast ehrfürchtig um das glatte Holz und schlagartig schlich sich ein Lächeln auf sein Gesicht. Es fühlte sich gut an. Verdammt gut. Beinahe schon zärtlich strichen seine Finger über die Maserung und seine Augen strahlten.
"Wow", flüsterte er und war überwältigt, von dem unglaublichen Gefühl, das diese bloße Berührung in ihm auslöste.
Irgendwann habe ich mein eigenes Schiff und werde zum Schrecken der Meere, schwor er sich und schloss für den Bruchteil einer Sekunde genießerisch die Augen.