Leinen Los! - Ableger

[Tjeika]

========================
Am Hafen von Lübeck
3. Juli 1517, Abend
========================

Kara nickte leicht lächelnd, während sie einen weiteren Bissen kaute.
"Ja, er hat gut geschmeckt", sagte sie schmatzend und grinste John an.
"Er hat gestohlen", sprach sie dann ernst weiter, als sie den Bissen heruntergeschluckt hatte.
Sie erinnerte sich noch gut daran, wie Willi vor zwei Tagen kielgeholt wurde. Dabei hatte er ein Bein verloren, da es unter dem Schiff irgendwo hängengeblieben war. Doch er hatte überlebt und war heute Morgen hier in Lübeck von Bord gegangen, gezwungenermaßen.
"Alle mal herhören", riss Kharecha die Aufmerksamkeit auf sich.
"Da Willi heute Morgen das Schiff verlassen musste, habe ich keinen zweiten Maat mehr. Daher ist es mir eine Ehre, euch zu sagen, dass Stian ab sofort zweiter Maat sein wird", sprach ihr Vater und Kara grinste, ehe sie zu ihrem Humpen Bier griff und diesen, wie die anderen auch, krachend immer und immer wieder auf den Tisch klopfte.

[Ayrina]

========================
Am Hafen von Lübeck
3. Juli 1517, Abend
========================

Auch John ließ es sich nicht nehmen, seinen Bierkrug heftig auf den Tisch zu schlagen. Er hatte bisher noch nichts mit Stian zu tun gehabt, doch er wirkte sympathisch, ruhig und als wüsste er, was er tat.
"Wer ist der erste Maat?", fragte John und beugte sich zu Kara hinüber. Es konnte wirklich nicht schaden, die wichtigsten Personen an Bord zu kennen. Da Andres nah bei Kharecha saß, ahnte er Schlimmes.

[Tjeika]

========================
Am Hafen von Lübeck
3. Juli 1517, Abend
========================

Kara grinste John schmelmisch an, ehe sie den Bierhumpen zu ihrem Mund führte und einen tiefen Schluck daraus trank.
"Dreimal darfst du raten", sagte sie ebenso schelmisch, wie ihr Blick war und nickte mit dem Kopf zu Andres hinüber.
Dann wandt sie sich kurz Stian zu, den sie sehr mochte, und prostete ihm zu, wie die anderen es auch taten. Sie freute sich wirklich für den Skandinavier. Drei Jahre war er nun schon an Bord und er hatte sich von Anfang an gut gemacht. Gerade einmal fünfundzwanzig war er und er machte seine Sache so, wie es ein Seemann tat, der Jahrzehnte an Erfahrung vorzuweisen hatte.
"Stian ist jedoch ein guter Ausgleich", sagte sie leise zu John.

[Ayrina]

========================
Am Hafen von Lübeck
3. Juli 1517, Abend
========================

Johns Blick hatte sich ein wenig verdunkelt. Es war nie gut, bereits von Anfang an mit dem ersten Maat auf Kriegsfuß zu stehen und an den Blicken von Andres konnte er sehen, dass der Mann ihn alles andere als mochte.
"Hoffen wirs", antwortete er Kara trocken und nahm ebenfalls einen Schluck Bier. Dann griff er erneut nach dem Brot.
"Hast du eigentlich noch Geschwister?", fragte er und biss herzhaft in das Brot.

[Tjeika]

========================
Am Hafen von Lübeck
3. Juli 1517, Abend
========================

Kara hustete, als sie die Frage von John vernahm. Der Bissen hatte sich auf den Schrecken hin doch glatt für den falschen Weg entschieden. Es dauerte einige Sekunden, ehe Kara wieder Luft bekam. Kurzerhand wischte sie sich mit ihrem Handrücken die Tränen, die von Husten gekommen waren, aus dem Gesicht und lachte daraufhin laut los.
"Nein, ist auch besser so", sagte sie lachend und biss in ihr Brot hinein.

[Ayrina]

========================
Am Hafen von Lübeck
3. Juli 1517, Abend
========================

Nun musste John doch wieder grinsen.
"Was denn? Etwa Angst vor Konkurrenz?", fragte er lachend und goss ihr etwas Bier nach.
"So ein kleines, verzogenes Schwesterchen...", überlegte er laut und das Grinsen wurde immer breiter.
"Ihr könntet euch gegenseitig Zöpfe flechten", lachte er.

[Tjeika]

========================
Am Hafen von Lübeck
3. Juli 1517, Abend
========================

Karas Blick verfinsterte sich. Sie hasste es, wenn man sie daran erinnerte, dass sie anders war, als die anderen hier. Sie hasste es, wenn man sie daran erinnerte, dass sie ein Mädchen war. Sie hasste es, ein Mädchen zu sein.
"Nein, danke", sagte sie knurrend und blickte John nicht an.
Momentan war sie sauer auf ihn, eben weil er sie auf ihren kleinen Makel hingewiesen hatte.

[Ayrina]

========================
Am Hafen von Lübeck
3. Juli 1517, Abend
========================

John sah sie eine Weile von der Seite an. Sie schien sich ganz offensichtlich über ihn zu ärgern und es war nicht so schwer zu erraten, weswegen. Doch er hielt nichts davon. Sie war ein Mädchen und daran konnte sie nichts ändern. Nur weil sie versuchte, keines zu sein, wurde sie nicht zu einem Jungen. Es machte sie nur angreifbar für Typen wie Thomas und Karl, die ihre Schwachstelle viel zu schnell fanden und ausnutzten. Sie sollte dazu stehen und aus ihrer Andersartigkeit eine Einzigartigkeit machen. Das würde ihr allerdings nie gelingen, solange sie sich selbst dafür hasste und schämte.
Doch das sagte er nicht. Damit würde er es sich mit ihr wohl endgültig verscherzen. Also schwieg er und nahm sich noch etwas Brot. Unauffällig musterte er die Manschaft. Manche Namen kannte er bereits, andere waren im komplett fremd. Er fragte sich, wann sie wohl ablegen würden.

[Tjeika]

========================
Am Hafen von Lübeck
3. Juli 1517, später Abend
========================

Kara hatte nach dem Vorfall beim Essen mit John keinen Ton mehr gesagt. Kaum, war ihr Vater aufgestanden, war sie ihm in die Kapitänskajüte gefolgt. Kurz hatte er sich verwirrt angesehen, gefragt, welche Laus ihr denn über die Leber gelaufen war, doch Kara hatte nur mit dem Kopf geschüttelt und sich in ihre Koje gelegt. Doch an Schlaf war nicht zu denken. Immer wenn sowas geschah, immer wenn sie daran erinnert wurde, was sie war, dann ging ihr dieser Gedanke den ganzen Tag nicht mehr aus dem Kopf. Sie hatte sich früher öfter mal gefragt, was sie Gott getan hatte, damit sie es verdient hatte, eine Frau zu sein, doch irgendwann hatte sie aufgegeben, an solch einen Gott zu glauben, der Frauen so sehr strafte. Doch dies hatte sie nie jeandem erzählt. Es war gesünder für sie, wenn nicht bekannt war, dass sie ihren Glauben verloren hatte. Das würde ihre Situation nicht gerade vereinfachen.
Es fiel ihr vor lauter Denken sehr schwer, einzuschlafen, doch irgendwann war sie ins Land der Träume gedriftet, wo es keine Rolle spielte, ob sie ein Mädchen war, oder nicht.

[Ayrina]

========================
Am Hafen von Lübeck
4. Juli 1517, früher Morgen
========================

Man musste kein Hellseher sein um zu wissen, dass John Kara gekränkt hatte. Es wunderte ihn auch nicht sehr, aber er wusste auch, dass Kara sich selbst damit keinen Gefallen tat. Wenn er länger auf der India bleiben sollte, und sie sich besser kennenlernten, vielleicht würde er es ihr irgendwann erklären. Doch im Moment würde sie für seine Worte alles andere als empfänglich sein. Also hatte er, wie sie auch, den restlichen Abend geschwiegen und war bald schlafen gegangen. Es war ein anstrengender, aufreibender Tag gewesen. Normalerweise schlief er an solchen Tagen wie ein Stein, doch in dieser Nacht wälzte er sich unruhig hin und her. So stand er kurz vor Sonnenaufgang auf und ging an Deck. Es würde noch eine Weile dauern, bis es Frühstück gab und so stellte er sich an die Reling und betrachtete das Meer. Wie graues Silber lag es vor ihm und die Stadt in seinem Rücken war noch nicht zum Leben erwacht. Soweit er gehört hatte, würden sie heute morgen aufbrechen. Er konnte es kaum erwarten.