Kitschwarnung ist damit dann auch rausgegeben

Rom
Wieder eine schlaflose Nacht. Eine unter Vielen. So vieles hatte sich in den letzten Monaten geändert. Seit sie zusammengezogen waren, war nichts mehr so, wie es vorher war. Wie es hätte sein sollen. Sie hatten sich auseinandergelebt. Nora hatte es geahnt, eigentlich sogar gewusst. Schon weit vorher. Und dennoch war sie das Risiko eingegangen. Wie so oft in ihrem Leben. Wie auch in diesem Fall, war es meistens schiefgegangen. Doch was war das Leben ohne Risiko wert? Konnte man gewinnen ohne etwas zu riskieren? Nora schüttelte den Kopf, während sie sich den Schlafsand aus den Augen rieb. Sie würde nicht mehr schlafen können, zu sehr belastete sie seine Nähe. Diese wenigen Zentimeter, die die beiden Körper trennten, waren einfach zu wenig. Sie musste hier raus, sich ablenken. Weg von ihm.
Wenige Minuten später saß sie an dem alten PC, den sie einst von ihrer Großmutter geschenkt bekommen hatte. Sie hatte es nach deren Tod einfach nicht übers Herz gebracht, ihn wegzuwerfen, um sich ein kaltes, herzloses, erinnerungsfreies neues Gerät zu kaufen. An ihrer finanziellen Situation hatte es sicher nicht gelegen. Er war laut und alt und brachte nicht viel Leistung, aber er war von ihrer Großmutter. Das war es, was in Noras Augen zählte.
Es hatte eine gefühlte Ewigkeit gedauert, ehe er endlich hochgefahren war, doch in ihrer Müdigkeit war Nora das egal. Sie hatte Geduld mit dem alten Gerät. Und sie würde solange Geduld haben, bis es schließlich in hoffentlich ferner Zukunft den Geist aufgeben würde.
Mit wenigen Klicks hatte sie das Chatprogramm geöffnet. Sie wusste, dass er da war. Er war immer da. Auch wenn das selbst in Noras Ohren mehr als nur merkwürdig klang. Er würde da sein, wie er es immer war.
Nora: Noch wach?
Luca: Natürlich. Was Anderes erwartet? Aber, warum bist du um 3 Uhr morgens noch wach? Etwas ungewöhnlich...
Nora: Nein, eigentlich nicht

Nora: Ich konnte nicht schlafen...
Luca: Wieder einmal?
Nora: Woher willst du das wissen?
Luca: Ich weiß eine Menge.
Nora: Ach, und was zum Beispiel?
Luca: Du kannst seit Wochen nicht schlafen, du bist unglücklich in deiner Beziehung... Mehr?
Nora: o.O Du kannst einem ja wirklich Angst machen. Aber wie kommst du auf die Idee, ich wäre unglücklich?
Luca: Du glaubst doch nicht ernsthaft, ich würde dir mein Geheimnis verraten, oder?

Nora: Nein, nicht wirklich. Aber man wird ja wohl noch hoffen dürfen...
Luca: Und was wirst du jetzt tun?
Nora: Wie meinst du das?
Luca: Wegen deinem Freund... wenn du unglücklich bist, hat es wenig Sinn, die Beziehung weiterzuführen, meinst du nicht?
Nora: Wenig, ja...
Luca: Also?
Nora: Ich denke, ich werde es noch einmal mit Schlafen versuchen. Gute Nacht!
Luca: Entschuldige, ich wollte dir nicht zu Nahe treten.
Luca: Viel Erfolg dabei... gute Nacht.
Ein wenig wütend war sie schon. Was maßte er sich es auch an, sich in ihre Beziehung einmischen zu wollen? Grummelnd schaltete sie den PC aus, ohne ihn herunterzufahren.
Sie wusste nicht viel über ihn, warum wusste er dann soviel über sie?
Viktors regelmäßiger Atem war durch die Schlafzimmertür bis ins Wohnzimmer zu hören. Das lag weniger daran, dass er so laut atmete, sondern eher daran, dass die Tür nicht sonderlich schalldicht war. Sein Atem ließ sie leise aufseufzen. Wenn sie wirklich wieder schlafen gehen wollte, musste sie sich wieder neben ihn legen. Und das war nun wirklich nicht das, was sie momentan wollte. Sie wollte nicht bei ihm liegen, wollte nicht, dass er im Halbschlaf nach ihr gierte, sie berührte, wie er es so oft getan hatte. Sie wollte seine Nähe nicht. Sie wollte ihn nicht. Nicht mehr.
Luca sollte also recht behalten, dachte sie bei sich und seufzte ein weiteres Mal. Sie hatte ihm unrecht getan und es tat ihr leid. Doch ihr Stolz verbot es ihr, sich sofort bei ihm zu entschuldigen. Das würde bis Morgen warten müssen.
Erst, als sie vor der Garderobe stand, wurde ihr bewusst, dass sie spazieren gehen würde. Vielleicht würde die frische Luft ihr ein wenig gut tun, ihren Gedanken einen neuen Lauf verleiten. Vielleicht würde sie dafür sorgen, dass ihr die rettende Idee kam.
Die Nacht war nicht sonderlich kühl. Wie sollte sie es auch im Hochsommer in Rom sein. Es war schwül, zu schwül für Noras Geschmack. Doch besser als ihre stickige Wohnung, die sie sich mit Viktor teilte, war es hier draußen allemal. Abgesehen davon, dass Nora gar nicht viel von dem mitbekam, was um sie herum war. Zu sehr war sie in ihren Gedanken versunken. Ihre Gedanken waren zu dem Chatgespräch mit Luca abgedriftet, welches die beiden vor wenigen Minuten geführt hatte. Sie wusste tatsächlich wenig über den Mann, mit dem sie seit etwas über zwei Monaten regelmäßig chattete. Über ein Kinoforum hatten sich kennengelernt, hatten festgestellt, dass sie einen ähnlichen Filmgeschmack hatten und sich fortan des Öfteren im Chat jenes Forums unterhalten. Er hatte eine Freundin und arbeitete neben seinem Medizinstudium in einem Kino. Viel mehr wusste sie nicht über Luca. Er sprach selten über sich selbst, schien aber aus jedem ihrer Worte ihre entsprechende Gefühlslage lesen zu können. Und er war so gut wie immer online. Warum auch immer...
"Du wolltest es doch noch einmal mit Schlafen versuchen", sprach eine leicht amüsierte, tiefe Stimme nicht weit hinter ihr - und Nora war verwirrt.
"Ich bin dir nicht böse. Ich muss mich entschuldigen. Ich bin dir zu Nahe getreten, das tut mir leid", sprach diese Stimme erneut, was Nora dazu veranlasste, sich umzudrehen.
Der Mann, der nun nur wenige Zentimeter vor ihr stand war wirklich hochgewachsen. Nora musste den Kopf leicht in den Nacken legen, um ihn genauer in Augenschein nehmen zu können. Einige Strähnen seines schulterlangen schwarzen Haares hatten sich in sein Gesicht verirrt. Und seine warmen braunen Augen blickten tief in die Ihren.
"Ich hoffe, ich habe dich nicht allzusehr erschreckt, Nora", sagte er nun leiser.
Luca. Wer sonst sollte es sein, wer sonst wusste, dass sie ins Bett gehen wollte und wer sonst würde alle Schuld auf sich nehmen, obwohl es doch an Nora gewesen wäre, sich zu entschuldigen.
"Aber...", doch zu mehr kam sie in ihrer Verwirrung nicht, denn sanft legte er einen Finger auf ihre Lippen und schüttelte lächelnd den Kopf.
"Keine Fragen. Ich wohne gegenüber von dir", sagte er.
Und sie hatte keine Gardinen, ergänzte sie gedanklich. Das würde so ziemlich alles erklären. Viktor und sie hatten in den letzten Wochen oft gestritten. Das hatte eigentlich jeder Nachbar gut bemerken können, so laut, wie sie sich teilweise angeschrien hatten.
Nunja, fast alles erklären, dachte sie.
"Ich habe dich mit dem Laptop deines Vaters im Park gesehen. Wir haben beinahe nebeneinander gesessen, während wir miteinander gechattet haben", erklärte er weiter.
Doch alles, dachte sie nun wieder und lächelte leicht.
Dann küsste er sie. Ohne Vorwarnung trafen seine Lippen auf ihre. Und ihr Herz setzte aus, ehe sie den Kuss erwiderte. Sanft legten sich seine Arme um ihre Hüfte, während sie die Ihren um seinen Nacken legte. Ihre Haut kribbelte unter seinen Fingern. Dieser Moment hätte ewig währen können, wenn es nach Nora gegangen wäre. Doch zu schnell hatte sie die Realität wieder eingeholt.
"Moment", sagte sie, während sie sich atemlos von ihm löste. Langsam ging sie einen Schritt zurück.
"Wir können das nicht tun! Ich meine, du hast eine Freundin, ich habe einen Freund. Das ist nicht fair ihnen gegenüber", sprach sie nun ruhiger und drohte in den Tiefen seiner braunen Augen zu versinken.
Und er nickte.
"Ich habe mich in dich verliebt, Nora. Schon vor Wochen. Ich wollte es dir eigentlich nicht sagen, weil wir uns kaum kennen, aber als du mich eben so abgebklockt hast...", sagte er leise.
Langsam trat er wieder auf sie zu und nahm ihr Gesicht in beide Hände. Und da wurde es ihr klar. Das Problem war nicht Viktor, das Problem war sie. Sie hatte sich in Luca verliebt.
Und nun war sie es, die ihn küsste, ohne jegliche Vorwarnung. Sie würde Viktor verlassen, so, wie Luca es mit seiner Freundin tun würde, wenn er es nicht sogar schon getan hätte. Sie wusste es nicht und in jenen Sekunden, in denen er sie küsste, in denen er sie an sich drückte, spielte es auch keine Rolle. Es war nur jener Moment, der für sie zählte.