Einen Eid zu erfüllen
Alexander Kirov
Ort: St. Petersburg
Datum: Mittwoch, 22. September
Zeit: 09:37 Uhr
Es brauchte nur einige geübte Handgriffe, um das Boot seetüchtig zu machen, und eine halbe Stunde später war er aus dem Hafengebiet heraus und auf offener See. Trotz des bedeckten Himmels war es relativ warm und nicht allzu windig. Und am wichtigsten: Es regnete mal nicht. Beim trimmen des Hauptsegels fiel sein Blick auf seine Hände, besser gesagt auf seine Handrücken, wo sich unzählige verblasste Runensymbole zu einer Art feinem, silbrigem Spinnennetz zusammenfügten. Wie viele waren das wohl? Dreißig? Sechzig? Über hundert? Er hatte schon längst aufgehört mitzuzählen. Und das mit gerade mal dreiundzwanzig, verdammt. Das war das Erbe von Jonathan Shadowhunter, was einst eine gut gemeinte Idee war, hatte sich im Laufe der Jahre zu einem Fluch gewandelt. Solange es nur gegen Dämonen ging, hatten sie eine Chance. Nicht zu gewinnen, nein, gewinnen konnte man schlecht wenn man nicht mal wusste wo die Mistviecher überhaupt herkamen. Aber man war in der Lage ein blutiges Patt zu halten, bis- ja, bis der Rest auftauchte. Die Hexenmeister waren dabei noch das kleinere Übel, die Werwölfe und Vampire waren da sehr viel schlimmer. Seit diese Halbdämonen sich auf der Erde breit machten, wurde das alles sehr viel schwieriger. Besonders, da diese Gruppierungen im Laufe der Jahre nicht sonderlich gut behandelt wurden, selbst wenn sie noch zum Teil menschlich waren. Und nun wandten sie sich auch gegen sie. Und ab da wendete sich das Patt gegen sie. Auch wenn es sich viele Nephilim nicht eingestehen wollten, erst recht nicht öffentlich. Das war die harte Wahrheit. Sie waren dabei, diesen Krieg zu verlieren.
Alexander saß am Heck des Bootes und starrte mit einem freudlosen Grinsen in den grauen Himmel. Erschaffen, um zu sterben, darauf war das Leben eines Schattenjägers nun reduziert. Wie sinnvoll das ganze dann war, konnte man eigentlich nur daran messen, wie viele seiner Feinde man mitnahm und wie viele Nachkommen man für zukünftige Schlachten heranzog. Nun gut, das erstere war kein großes Problem für ihn. Seit seine Eltern verschwunden waren und er als sechsjähriges, völlig verstörtes Kind bei
Oleg landete, kannte er kaum noch etwas anderes als trainieren, Kämpfen, töten. Er wurde mit der Zeit richtig gut darin und auf irgendeine perverse Art war er sogar stolz darauf, vor allem wenn er sich Gedanken machte, was er sonst hätte tun können.
Vor ein paar Jahren kam das Gespräch einmal bei einem feucht- fröhlichen Abend mit seinem Ziehvater darauf, warum er ihm seit er sich erinnern konnte nur Übungen, Taktik und Waffenkunde lehrte. Nach einigen Ablenkungsversuchen und einer ganzen Zeit voller nagendem Schweigen erfuhr er es endlich. Oleg wusste um den Zustand der Schattenjäger und um die Situation, in der sie sich befanden nur zu gut. Er hatte es früh genug erkannt, also machte er in jungen Jahren, als er selbst noch voller Idealismus war, dem Rat den Vorschlag junge Krieger auszubilden. Ohne Familie, ohne Bindungen, Jung, stark, furchtlos und absolut tödlich. Eine kleine Gruppe von Kriegern, die man dort hineinwerfen konnte, wo das schlimmste Schlachtgetümmel wogte und die solange überleben und den Feind ablenken konnten, bis die restlichen Nephilim die Lage unter Kontrolle bekamen. Eine Speerspitze, die Elite, Siegen oder bei dem Versuch sterben. Töten, ohne auf andere Rücksicht zu nehmen, ohne Mitleid, ohne Gefühle, ohne von jemandem oder etwas zurückgehalten zu werden. Und er sollte der erste sein.
Soweit die Theorie, das Training machte gute Fortschritte, nur die erforderliche Gefühlskälte wollte sich nicht ganz bei ihm einstellen. Er war ein Dickkopf und seine Persönlichkeit wollte sich nicht einfach so unterdrücken lassen, das hatte Oleg das erste mal gemerkt, als er den kleinen, halb erfrorenen Jungen aus dem Schlammloch zog, nachdem er Tagelang nach dem Foto seiner Eltern suchte. Er wehrte sich, wollte nicht ins Institut zurück, versuchte dort selbst aus dem Krankenzimmer zu flüchten, so dass Oleg Tage- und Nächtelang an seinem Bett wachen musste. Fast den Tränen nahe hatte er ihm dann gestanden, dass er damals das erste mal so etwas wie Vatergefühle für ihn entwickelte, aus dem Respekt vor seinem unbändigen Willen entstanden und ständig wuchsen. Jahre später teilte er dem Rat dann mit, dass er das Experiment nicht weiter fortführen konnte und wollte. Und da war er nun, Alexander Kirov, ein missglücktes Experiment, ein Killer mit Persönlichkeit. Würde zumindest ein guter Titel für einen Hollywoodstreifen abgeben. Was blieb ihm schon anderes übrig, als den Eid Shadowhunters zu erfüllen, selbst, wenn er ihn nie geleistet hatte? Er hatte einfach keine Wahl, er war ein Nephilim.