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Toyan
Port Soles
Ende Dezember im 145. Jahr des Lichtes
Nachmittag

"Das kann wohl keiner heute mehr beantworten. Ein was-wäre-wenn bleibt immer nur ein Gedankenspiel", antwortete Toyan. Viele hatten die Schlacht gegen Nalahr nicht überlebt, auch viele des Vereinten Chomas nicht.
"Aber das Vereinte Choma existiert weiterhin. Der Kampf um Choma hat gerade erst begonnen, wie Ihr sicher mit bekommen habt. Nun, wo die Grenzen gefallen sind, müssen wir eine neue Ordnung finden. Das löst auf vielen Ebenen Widerstand aus. Und bisher ist noch nicht sicher, in welche Richtung es sich schlussendlich entwickeln wird. Es kann alles jederzeit wieder kippen. In die eine oder andere Richtung."
Sie waren immerhin auf dem Weg zu einem Treffen des Vereinten Chomas, auch wenn Réigam es noch nicht wusste - wenn auch vielleicht vermutete. Aceio würde das Treffen nicht ohne Grund einberufen und er würde auch einen Fremden wie Réigam nicht ohne Grund einladen.

Réigam
Port Soles
Ende Dezember im 145. Jahr des Lichtes
Nachmittag

Tatsächlich hatte Réigam in den Gassen und Straßen der Hauptstadt durchaus mitbekommen, dass das Land in Unruhe war. Viele brachten sich in Stellung, andere zogen sich zurück, um später gestärkt wieder zu kommen. Niemand konnte sagen, wer am Ende die Oberhand behalten würde. Und so blieb ihm nichts anderes übrig, als Toyan zuzustimmen:

"Ihr habt Recht. Alte und neue Kräfte sammeln sich überall, Bündnisse werden geschmiedet, oder gebrochen. Wie immer, wenn eine große Macht fällt, sammeln sich die Geier, um über die Reste herzufallen. Ich habe sowas auf den Straßen schon öfters erlebt. Meistens zögern alle damit, den ersten Schritt zu machen, aber sobald sich einer aus der Deckung wagt, ist es, als ob die Hölle losbricht. So gesehen wäre es vielleicht klüger gewesen, wenn ich in meinem Dorf geblieben wäre, aber dann würde die Gelegenheit vielleicht verstreichen und ich würde niemals mehr etwas über Hannó erfahren können. Außerdem will ich nicht, dass es wieder so wird wie vorher - oder womöglich sogar noch schlimer. Es soll nicht noch mehr Opfer wie Hannò geben. Also bin ich eben hergekommen. Man wird sehen, wozu es gut ist."

Aceio / Toyan
Port Soles
Ende Dezember im 145. Jahr des Lichtes
früher Abend

Aceio wartete im Halbschatten der alten Fabrik. Er hatte dieses Gebäude in Betrieb gesehen, viele Jahrzehnte lang waren hier die Münzen Embras geprägt worden. Dann gab es modernere Prägeverfahren und der Meister konnte sich die neuen Maschinen nicht leisten. So war dieser vergessene Ort mitten in der Stadt ein Teil Zeitgeschichte, den niemand wagte, auszuradieren.
Die ersten kamen an, unter ihnen auch Eza, die blonde junge Frau, die für ihn die einflussreichsten Handels- und Kaufleute hierher eingeladen hatte. Für sein eigenes Netzwerk hatte Aceio selbst gesorgt.
Die Luft roch noch immer nach Metall und Eisen und Feuerkohle und so beobachtete Aceio, wie die Ankommenden nicht selten überrascht Luft einsogen als sie eintraten. Doch noch hielt er sich im Halbschatten. Beobachtete und wartete ab.

Das Licht der Sonne nahm rasch ab und Toyan erkannte, dass sie sich einem sehr alten Stadtteil von Port Soles näherten. Viele Gebäude hier waren verfallen gewesen lange vor dem Krieg. Perfekte Verstecke für Tagediebe, Räuber und eine kleine, verschworene Gemeinschaft, wie Aceio und Gilean sie einst ins Leben gerufen hatten.
Er sah zu Shaya und ließ sie an seinen Gedanken teilhaben. So hatte es damals auch angefangen. Aus ihnen vieren waren schließlich Tausende geworden. Sie ahnten, dass Aceio weit größere Pläne verfolgte als er offenbarte. Dieses Treffen konnte neue, große Steine ins Rollen bringen.
"Eure Einschätzung klingt sehr realistisch", antwortete er indes Réigam. "Wenn Bündnisse zerfallen und Mächte zerbrechen, gibt es wohl immer zu viele, die die Macht an sich reißen wollen. Ich fürchte, es kommen schwere Jahre auf Choma zu."
Sie erreichten die alte Münzprägefabrik, die schon leer gestanden hatte als Toyan als Kind auf den Straßen gespielt hatte. Kurz flackerte eine Erinnerung in seinen Gedanken auf - ein bunter Markt, auf dem gewebte Stoffe und gefärbte Tücher aus dem Ausland verkauft wurden. Es war Sommer gewesen und er hatte den ganzen Tag zwischen den herrlich bunten Stoffen aus dem fernen Sombal gespielt, seiner alten Heimat, an die er sich kaum noch erinnerte. An diesem Tag war der Marktplatz von Port Soles der friedlichste Ort der Welt gewesen.
Die Erinnerung verschwand so schnell wie sie gekommen war und Toyan nahm die alte Prägewerkstatt wieder wahr, von deren Wänden die Farbe blätterte und deren alte Holztür gesplittert war und halb offen stand. Wieder sah er kurz fragend zu Shaya, doch sie hätte sie nicht hier her geführt, wenn das Treffen nicht hier statt fände.

Shaya Kerim & Eskya Zarin
Port Soles
Ende Dezember im 145. Jahr des Lichtes
früher Abend

"Habe ich dir zuviel versprochen?", fragter Eskya aka Eza an Aceio gewandt, wobei ihre Mundwinkel zuckten.
Sie hatte ja nun ein paar Monde lang Zeit gehabt, sich hier ein neues Netzwerk aufzubauen. Wobei ihr altes Netzwerk durchaus hilfreich gewesen war.
Wie es in einer Münzwerkstatt roch, wusste sie bereits. Zumal sie sich eine solche Verwunderung oder gar ein solches Erstaunen nicht würde anmerken lassen.

"Sehr schwere Zeiten", seufzte Shaya, die durchaus bemerkt hatte, wie Toyan sich ihr allmählich geöffnet hatte.
Ein kurzer Seitenblick galt ihm. Sie hatte mit ihm ja bereits besprochen, welche Bedenken sie gegenüber Aceio hegte. Das war dann wohl genau das Thema des Abends.
"Wir sind da", sagte sie mit einem Lächeln, als sie die gesplitterte Holztür aufschob, die sich nur schwerlich bewegen ließ, weil sie halb über den Boden schliff.
Dahinter wartete das Innere der alten Münzwerkstatt mit all ihren Geräten - und den Gästen, die sich bereits eingefunden hatten.

Réigam
Port Soles
Ende Dezember im 145. Jahr des Lichtes
Nachmittag

"Ach was, das wird schon werden. Irgendwie geht es immer weiter."

Da war er wieder, Réigams unerschütterlicher Optimismus. Immerhin war er realistisch genug, um noch hinterher zu schieben:

"Aber man muss aufpassen, dass es nicht schlechter weitergeht, als es nötig wäre."

Dann besah er sich das heruntergekommene Gebäude. Er kannte sowas aus seiner Zeit auf der Straße. Ein guter Platz für eine Diebesbande, aber etwas überraschend für Leute, die eine Revolution angeführt und Choma befreit hatten. Eigentlich hätte er Toyan oder Aceio eher im Rathaus erwartet als hier. Ob sie sich aus Nostalgie hier trafen? Sicherlich hatte ihre Bewegung an einem Ort wie diesem angefangen. Oder war es ein Treffen mit Leuten, die diesen Ort heute benutzten? Etwas skeptisch schaute er zu Shaya:

"So abgelegen?"

Aceio
Port Soles
Ende Dezember im 145. Jahr des Lichtes
früher Abend

"Keineswegs", sagte Aceio nicht ohne Anerkennung. Sie hatte gute Arbeit geleistet. Viele waren Magier, doch nicht alle. Eine bunte Gesellschaft, die er zu einem Ziel zusammen führen wollte. Ihr Netzwerk traf auf seines. Das konnte interessant werden. Es würde sich zeigen, ob eine weitere Zusammenarbeit erstrebenswert war. Eza sah jung aus, viele unterschätzten sie. Doch ihm war klar, dass hinter ihrem Aussehen eine lange Geschichte steckte, die er noch nicht erfahren hatte. Eines Tages, vielleicht...
"Die einflussreichsten Geschäfts- und Handelsleute aus Port Soles. Ich bin beeindruckt, du hast dein Wort gehalten." Nun musste er hoffen, dass das seine sie überzeugte.

Shaya Kerim & Eskya Zarin
Port Soles
Ende Dezember im 145. Jahr des Lichtes
früher Abend

"Du wirst nur genau diese eine Chance haben, sie zu überzeugen", warnte Eskya ernst, aber zuversichtlich nickend.
"Aber wenn du sie erst auf deiner Seite hast, dann hast du Port Soles in deiner Hand."
Damit wandte Eza ihren Blick von der bunten Gesellschaft ab und Aceio zu.
"Gehe weise mit dieser Verantwortung um."
Was aber auch hieß, es sich nicht mit ihr zu verscherzen.

"Um genau das zu verhindern, dass es schlechter weitergeht, als wir es bisher erlebt haben, sind wir hier", eröffnete Shaya, die sich erst einmal einen Überblick über die Gesellschaft, die sie hier erwartete, verschaffte.
Da traf ihr Blick auf Eza, die bei Aceio stand. An ihre letzte Begegnung konnte sie sich noch sehr gut erinnern, hatte sie sich ganz besonders Shaya gegenüber doch so auffallend distanziert verhalten.
"So abgelegen. Glaubt mir, es ist besser so", versicherte sie Réigam dann.

Réigam
Port Soles
Ende Dezember im 145. Jahr des Lichtes
Früher Abend

"Na gut, ihr wisst ja, was ihr tut. Ich halte mich im Hintergrund, bis ich angesprochen werde."

antwortete er Shaya leise. Er wusste aus seiner Erfahrung mit Banden von Straßenkindern, dass man als "der Neue" erstmal die Klappe zu halten hatte, bis man eingeführt wurde. Deshalb blieb er auch ganz leicht hinter seinen Begleitern zurück, so als gehöre er zu einer Art "Gefolge". Von diesem Platz aus nahm er sich die Zeit, sich genau umzusehen. Immerhin kannte er die Leute hier ja gar nicht, und wenn sie diesen Ort gewählt hatten, wer konnte dann schon wissen, was sie vor hatten? Er achtete auf die anderen, ob welche von ihnen feindselig wirkten, und ob sie bewaffnet waren. Und er versuchte, einen Blick auf mögliche Fluchtwege zu werfen, zumindest merkte er sich den Rückweg zur Tür.

Aceio
Port Soles
Ende Dezember im 145. Jahr des Lichtes
früher Abend

Aceio sah zu Eza, die ihren Einfluss deutlich machte. Er verstand die Warnung und nickte leicht. Im selben Atemzug stand er auf. Er würde sich ihr nicht unterordnen. Er hatte mit Gilean die Fäden bis hierher gesponnen und er würde sie weiter in der Hand halten. Brihás Fäden, die in seine Hände gelegt wurden.
Er wusste um die Verantwortung, vor der Eza ihn gewarnt hatte, und er gedachte nicht sie zu verspielen.
Er trat aus den Schatten hervor und zog damit die Blicke der Anwesenden auf sich. Ja, er mochte die kleinen Effekte der richtigen Inszenierung.
"Willkommen. Euer Erscheinen ehrt mich", sagte er und er neigte leicht in den Kopf in einer kleinen Geste der Demut. "Mein Name ist Aceio und ich freue mich, dass Ihr meiner Einladung gefolgt seid. Als Händler und Kaufleute kennt Ihr den Einfluss der Handelsrouten auf den Wohlstand einer Stadt. Port Soles ist seit jeher eine sehr wohlhabende Stadt, ungebrochen nach dem Angriff der Untoten. Dies hat sie Euch zu verdanken. Darum lud ich Euch heute Abend ein. Da ich weiß, dass Ihr die Werte von Handel, Wohlstand und Traditionen zu schätzen wisst."
Er ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen. "Jeden von uns begleiten Traditionen seit unserer Geburt. Persönliche, familiäre, regionale, berufliche Traditionen. Alle Völker Chomas haben Traditionen und in vielen Gegenden gibt es ähnliche Bräuche und Gesellschaftsordnungen. Lange Zeit waren dem freien Handel schwere Riegel vor geschoben. Diese Riegel möchte ich mit Eurer Hilfe brechen."
Er holte eine kleine Truhe hervor und ließ den Anblick wirken. Sie war kunstvoll gearbeitet aus fremden Holz, bemalt mit Erdfarben und Bildern, die im Osten Chomas bisher unbekannt waren.
"Diese Truhe stammt aus einem kleinen Inselreich weit im Westen, welches im Umbruch ist. Die über hundert Jahre währende Isolation brachten eine tiefgründige Kultur mit tief verwachsenen Traditionen hervor, die nun darauf wartet, ihre Schätze mit der Welt zu teilen."
Der Anfang war gemacht. Die Sicherung dieser Handelsrouten und die Sicherung des Volkes von Bélan, welches vor der rigorosen Plünderung stand, war nun Verhandlungssache.

Toyan sah zu Aceio, dem Mann, der die Rebellion gegen die Bruderschaft angeführt hatte wie kein Zweiter. Nun forderte er einen Handel mit den Bélan-Inseln, dem Volk, dessen Anführer Nalahr gewesen war? Der Plan dahinter wollte sich Toyan nicht recht offenbaren.

Shaya Kerim & Eskya Zarin
Port Soles
Ende Dezember im 145. Jahr des Lichtes
früher Abend

Eza zog sich ein wenig in die Schatten zurück und verlegte sich auf's Beobachten. Es blieb abzuwarten, wie Aceio mit ihrer in Aussicht stehenden Treue umging. Aber sie hatte ihre Warnung durchaus ernst gemeint, sollte er sich gegen sie stellen, würde sie alles in ihrer Macht stehende tun, um ihm das Leben außerordentlich schwer zu machen.
Die kleinen Schmeicheleien, der Honig, den Aceio den Händlern und Kaufleuten ums Maul schmierte, wussten jene sehr offensichtlich zu schätzen, auch wenn Eza ungesehen mit den Augen rollte. Man konnte dennoch ein leises "Jawoll, genau so ist es" hören. Andere raunten ihre Zustimmung leise. Damit war der Einstieg schon einmal gelungen.
"Erzählt uns mehr über dieses Reich", verlangte einer der Kaufleute, während einige Händler bereits nähergetreten waren, um den kleinen Schatz zu bewundern.

Shaya wechselte einen kleinen, skeptischen Blick mit Toyan. Diese Richtung, unter allen, die sich entwickeln konnten, hatte sie am Wenigsten erwartet. Nalahrs Leute? Ernsthaft? Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück.