Seite 12 von 102
Re: 3. Port Soles
Verfasst: Do 5. Sep 2019, 21:15
von Spikor
=========================
Réigam
Port Soles
Anfang Februar
146. Jahr des Lichtes
Vormittag
=========================
Réigam ging über einen Marktplatz und sah sich das - jetzt im Winter ziemlich karge - Angebot der Stände und Läden an. Nicht dass es viel ausmachen würde, er hatte sowieso kaum Geld, um sich etwas kaufen zu können. Im Grunde lebte er hier auf Shayas und Toyans Kosten, und das schmeckte ihm nicht. Er hatte sich den anderen angeschlossen, weil er es für wichtig und eine gute Sache hielt, aber noch war nichts weiter geschehen. Aceio war abgereist und sie waren nicht mitgegangen. Das hatte Réigam gut gefunden. Aber sie hatten wegen des Winters auch nichts großartig anderes machen können, und so saßen sie hier herum und warteten. Einige der anderen, die Réigam nach und nach kennenlernte, erholten sich von strapaziösen Reisen, die sie hinter sich hatten. Auch Réigam fühlte sich besser und stärker als... nun, wie schon lange nicht mehr, aber im Gegensatz zu den anderen hatte er vorher nichts geleistet, was sein jetziges Ausruhen rechtfertigen würde. Er kam sich nutzlos und wie ein Schmarotzer vor, ein Bettler, der zwar behauptete, helfen zu wollen, der bislang aber nur genommen und nichts gegeben hatte.
Aus diesem Grund zog es ihn immer wieder in die Stadt. Er versuchte, möglichst den ganzen Tag über unterwegs zu sein. Ein Grund dafür war, dass er sich unterwegs wenigstens das Mittagessen selbst organisieren wollte, um das nicht auch noch aus dem Gasthaus nehmen zu müssen. Die Folge war, dass er meistens gar kein Mittagessen hatte. Manchmal fand er Geld oder erledigte einen kleinen Botengang oder Ähnliches für Leute, die gerade jemanden suchten. Auf diese Weise fing er auch an, sich in der Stadt Kontakte aufzubauen, aber es war ein mühseliges Geschäft und nur wenig erfolgreich. Er klapperte auch immer einige Bettler und Straßenkinder ab, die er schon gekannt hate, bevor er Toyan begegnet war - sie hatten ihm überhaupt erst den Tipp gegeben. Nun hielt er den Kontakt zu ihnen aufrecht, gab ihnen sogar manchmal eine Münze, obwohl er selbst kaum etwas hatte, und ließ sich von ihnen die neusten Neuigkeiten mitteilen. Das war der zweite Grund, warum er sich so viel in der Stadt herumtrieb - er hoffte, etwas Nützliches zu erfahren, das er dann Toyan sagen könnte, um so wenigstens ein bisschen helfen zu können.
Bislang war das aber nicht geschehen, und auch heute sah es eher mau aus. Gerade unterhielt er sich mit einem alten Bettler, als dieser ihn fragte, ob er sich seines Schattens bewusst sei. Nein, war er nicht - er hatte Tazanna nicht bemerkt. Réigam war selbst auf den Straßen aufgewachsen und wusste, wie man sich unauffällig verhielt. Also verbarg er seine Überraschung, wechselte sogar noch ein paar Sätze mit dem Bettler, nur um zu zeigen, dass er es nicht eilig hatte, und ging dann direkt auf Tazanna zu, als ob er sie schon die ganze Zeit über gesehen hätte. "Hallo", begrüßte er sie mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen, "bist du Einkaufen oder gehst du Spazieren?"
Re: 3. Port Soles
Verfasst: Do 5. Sep 2019, 21:32
von Cassiopeia
=========================
Tazanna
Port Soles
Anfang Februar
146. Jahr des Lichtes
Vormittag
=========================
Tazanna folgte Réigam schon seit einiger Zeit, nicht erst seit diesem Tag. Er schien rastlos, ein wenig orientierungslos und wusste doch genau, was er tun musste um in dieser Stadt zu überleben: die richtigen Kontakte, die richtigen Informationen. Dies entschied manchmal über Leben oder Tod in den Gassen einer Großstadt. Diese Lektion hatte sie schon in jungen Jahren gelernt.
Nun war sie kein Kind mehr, das in den Gassen von Seyîn gelernt und nie vergessen.
Réigams Netzwerk bestand aus jenen, die niemand wahrnahm. Bettler und Straßenkinder waren, besonders im Winter, unsichtbar für die meisten Bewohner, die sich nur um ihre eigenen Belange und ihre eigene Wärme kümmerten. Nicht für Réigam. Tazanna beobachtete seinen Umgang mit diesen Menschen, deren Leben keinen Wert zu haben schien. Für Réigam hatten sie einen Wert.
Als dieser nun direkt auf sie zukam, war ihr klar, dass der Alte sie bemerkt haben musste. So trat sie aus dem Schatten heraus und sah Réigam an, der direkt vor ihr stand.
"Weder noch", antwortete sie ehrlich. "Genau so wenig wie du", ließ sie ihn wissen. "Lass uns ein paar Schritte gemeinsam gehen."
Re: 3. Port Soles
Verfasst: Fr 6. Sep 2019, 21:02
von Spikor
=========================
Réigam
Port Soles
Anfang Februar
146. Jahr des Lichtes
Vormittag
=========================
"Sicher. Ich habe Zeit und nichts weiter vor", antwortete er Tazanna offen. Sonst sagte er erstmal nichts. Schließlich war sie es gewesen, die ihm gefolgt war, also musste sie etwas im Sinn haben. Er fragte sich, ob sie es rundheraus sagen oder drum herum reden oder eine Ausrede finden würde. Er kannte sie kaum, aber er spürte, dass er sie jetzt ein bisschen besser kennenlernen würde. Er wickelte seine Decke, die er als Umhang trug, enger um sich und schaute sie erwartungsvoll an.
Re: 3. Port Soles
Verfasst: Fr 6. Sep 2019, 21:12
von Cassiopeia
=========================
Tazanna
Port Soles
Anfang Februar
146. Jahr des Lichtes
Vormittag
=========================
Tazanna setzte einen Fuß vor den anderen, langsam, ohne direktes Ziel.
"Du bist neu hier und doch bewegst du dich sicher in der Stadt", bemerkte sie. "Du bist in einer Stadt groß geworden, nehme ich daher an. Wenn auch keine andere Stadt, die ich kenne, so groß und bunt ist wie Port Soles."
Sie sah ihn zögernd an, diese Worte lenkten das Gespräch unweigerlich auf eine persönlichere Ebene als sie bisher geteilt hatten.
"Verzeih mir, ich will nicht aufdringlich sein. Ich habe... nunja, ich habe nur den Eindruck, dass wir einander ähnlicher sind als wir vielleicht denken."
Re: 3. Port Soles
Verfasst: Fr 6. Sep 2019, 21:39
von Spikor
=========================
Réigam
Port Soles
Anfang Februar
146. Jahr des Lichtes
Vormittag
=========================
Réigam ließ sich mit seiner Antwort ein paar Augenblicke Zeit und sortierte seine Gedanken. "Vielleicht", sagte er deshalb auch erst einmal, um noch mehr Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Réigam war kein allzu offener Mensch, selbst wenn er offen sprach. Seit der Sache mit dem Bauerndorf damals hatte er niemanden mehr so richtig an sich heran gelassen und war vorsichtig damit, viel von sich zu erzählen. Außerdem gab es auch Stellen in seiner Vergangenheit, über die es klug war, zu schweigen. Nachdem er sich seine Antwort zurecht gelegt hatte, sagte er langsam und konzentriert: "Ich kenne dich kaum und weiß nicht so recht, was für ein Mensch du bist. Aber du hast erkannt, dass ich aus einer Stadt stamme. Tatsächlich waren es verschiedene, und die Umstände, unter denen ich dort lebte, waren auch sehr verschieden. Aber das ist lange her. Zuletzt habe ich hauptsächlich auf dem Land gelebt. Deshalb fällt es mir jetzt auch nicht ganz leicht, mich wieder an alles zu erinnern, was in der Stadt wichtig ist. Ich bewege mich nicht so sicher, wie ich sollte, sonst hätte ich dich früher bemerkt. Wie kommt es, dass du so gut bist?"
Re: 3. Port Soles
Verfasst: Fr 6. Sep 2019, 21:46
von Cassiopeia
=========================
Tazanna
Port Soles
Anfang Februar
146. Jahr des Lichtes
Vormittag
=========================
Tazanna machte eine Bewegung, die wie ein seitliches Nicken wirken musste.
"Nun, auch ich stamme aus einer Stadt, die nicht Port Soles war. Vor sehr vielen Jahren... dort habe ich einiges gelernt, obgleich ich noch ein Kind war. Aber auch ich bin aus vielen Gründen vorsichtig geworden." Ihre Miene wurde ernster.
"Sagen wir einfach, ich hatte keine andere Wahl. Wäre ich nicht so gut, wäre ich heute nicht hier."
Die Wüste hatte sie beinahe gebrochen. Doch am Ende war sie stärker daraus hervor gegangen.
"Was zieht dich in die mächtige Hafenstadt, wenn ich fragen darf?"
Re: 3. Port Soles
Verfasst: Fr 6. Sep 2019, 22:04
von Spikor
=========================
Réigam
Port Soles
Anfang Februar
146. Jahr des Lichtes
Vormittag
=========================
Diesmal kam Réigams Antwort spontaner. Vielleicht, weil sie persönlicher war? Vielleicht, weil er meinte, hier nicht viel falsch machen zu können? Im Nachhinein war er sich selbst nicht sicher, aber er glaubte nicht, dass es ein Fehler gewesen war, zu sagen: "Hergezogen hat mich die Vergangenheit. Da war etwas, das noch nicht abgeschlossen war. Diesen losen Faden wollte ich verknüpfen. Oder abschneiden. Jedenfalls sollte er nicht mehr lose sein, wenn du verstehst, was ich meine. Und das habe ich auch geschafft, dank Toyans Hilfe. Diese Geschichte ist damit vorbei, und ich habe deswegen keinen Grund, noch länger hier zu bleiben. Aber es ist wie so oft im Leben, die eine Geschichte endet und die nächste beginnt schon. Ich wollte Toyan für seine Hilfe danken und bleib eine Weile, und dann entwickelten sich die Dinge mit Aceio, und auf einmal war ich Teil von etwas und, nun ja, nun bin ich immer noch hier. Nicht mehr wegen der Vergangenheit, sondern wegen der Zukunft."
Er zögerte kurz, dann fuhr er nachdenklicher fort: "Ich glaube, das ist das erste Mal, dass ich an der Zukunft arbeite. Es fühlt sich komisch an, so langsam und schleichend. Man meint, dass gar nichts passiert, aber irgendwie passiert es doch. Und ich fürchte, wenn es richtig losgeht, wird es mich übermannen, wie bisher jedes Mal, wenn ich etwas Großem begegnet bin. Deshalb will ich mich vorbereiten, und deshalb gehe ich jeden Tag durch die Stadt. Ich präge sie mir ein. Ihre Wege, ihre Leute. Ich suche Vorteile. Nicht einmal so sehr für mich, ich komme schon irgendwie durch. Bin ich immer. Aber wenn ich hier nützlich sein will, muss ich mehr werden, als ich bis jetzt bin. Ich fürchte, bis jetzt bin ich Toyan eher eine Last als eine Hilfe gewesen, meinst du nicht?"
Re: 3. Port Soles
Verfasst: Fr 6. Sep 2019, 22:12
von Cassiopeia
=========================
Tazanna
Port Soles
Anfang Februar
146. Jahr des Lichtes
Vormittag
=========================
"Es ist das, was uns ausmacht - das, wer wir waren, und das, wohin es uns zieht. Ohne die Vergangenheit und eine Zukunft, die wir anstreben, lohnt die Gegenwart sich nicht, gelebt zu werden", meinte Tazanna als Antwort auf Réigams Worte.
Toyan also. Damit waren sie schneller beim Kern des ganzen als gedacht.
Tazanna überlegte eine Weile, ehe sie antwortete.
"Ich kenne Toyan aus der Zeit vor dem Krieg gegen Nalahar. Wir waren eine Zeit zusammen unterwegs, bis sich unsere Wege trennten. Er und Shaya zogen weiter und wurden mit den anderen so etwas wie Helden, während andere vergessen wurden."
Sie machte ihm keinen Vorwurf, doch es war ihr sehr schwer gefallen, sich Shaya und Toyan wieder zu offenbaren.
"Es muss ein großer Gefallen gewesen sein, den Toyan dir erwiesen hat, dass er solche Loyalität verdient hat. Du musst mir nicht sagen, worum es ging, aber sei dir bewusst, dass du nicht der einzige bist, der um seine Sicherheit besorgt ist."
Re: 3. Port Soles
Verfasst: Fr 6. Sep 2019, 22:40
von Spikor
=========================
Réigam
Port Soles
Anfang Februar
146. Jahr des Lichtes
Vormittag
=========================
Die wahre Bedeutung von Tazannas Worten wurde Réigam erst bewusst, als er Stunden später kurz vor dem Einschlafen noch einmal darüber nachdachte. Jetzt, im Gespräch, floss aus ihm eine Entgegnung, die eher ablenkte, ohne dass er sich dessen bewusst war: "Ich weiß gar nicht, ob ich mir um seine Sicherheit Sorgen mache. Jedenfalls gibt es nichts, was ich für ihn tun könnte, was er selbst nicht viel besser könnte. Er ist ein Krieger, ich bin ein Niemand. Es geht eher darum, überhaupt etwas für ihn zu tun. Und dann ist da ja noch die Sache mit der Zukunft. Zum ersten Mal könnte es sein, dass ich eine habe, aber nur, wenn nicht wieder irgendwelche Mächtigen kommen, und sie zerstören, so wie früher. Ich habe es satt, dass Leute über mein Schicksal bestimmen, nur weil sie es können. Das, was ihr, was wir alle zu tun versuchen - wenn es scheitert, wird wieder alles so, wie es war. Und es war furchtbar! Ich weiß nicht, wieviel ich tun kann, aber wenn es hilft, dann will ich es tun, um das zu verhindern. Um zu erhalten, was ihr aufgebaut habt. Und ehrlich gesagt macht es mir Angst, dass diese wunderbare Zukunft tatsächlich an so unbedeutenden Leuten wie mir hängen sollte. Zum Glück ist es ja nicht so, aber manchmal fühlt es sich so an."
Réigam merkte, dass er sich in Gedanken verheddert hatte, und setzte neu an: "Toyan half mir, meinen letzten Verwandten zu finden. Leider war es nur ein Grab. Noch vergänglicher kann Vergangenheit nicht sein, oder?" Er musste kurz lachen, aber es war kein fröhliches Lachen. "Warscheinlich ist es nicht einmal wichtig, ob man vergessen wird oder nicht. Das Grab steht da, aber wenn ich nicht mehr da bin, wird es für niemanden mehr eine Bedeutung haben. Aber wenn wir wirklich etwas bewegen können, dann wird das für alle Bedeutung haben, und diese Bedeutung wird bleiben, auch wenn wir unterwegs vergessen wurden."
Wieder unterbrach sich Réigam und reflektierte kurz darüber, wieso er eigentlich so sehr über das Vergessen redete? Weil Tazanna es angesprochen hatte? Es schien sie irgendwie mitzunehmen, als sie davon sprach. War es eine gute Idee gewesen, es deshalb aufzugreifen? Unsicher schaute er sie an und prüfte ihre Reaktion.
Re: 3. Port Soles
Verfasst: Fr 6. Sep 2019, 22:51
von Cassiopeia
=========================
Tazanna
Port Soles
Anfang Februar
146. Jahr des Lichtes
Vormittag
=========================
Tazanna hörte Réigam sehr genau zu. Es waren traurige Worte, die er sprach, es schien mehr zu geben, das er nicht sagte als das, was er sagte.
"Du, werter Réigam, bist alles andere als ein Niemand! Wir sind es selbst, die den Weg unserer Zukunft gehen. Die Mächtigen dieser Welt fühlen sich nur so lange mächtig, wie wir sie darin bestärken." Sie schüttelte leicht den Kopf. "Was hat es ihnen gebracht? Nalahr ist gefallen, die Bruderschaft ist gefallen. Einer ersetzt den anderen, so scheint es. Doch wir müssen ihnen nicht ausgeliefert sein. Wir haben eine Zukunft. Wir dürfen sie uns nicht bestimmen lassen von jenen, die meinen, mächtiger zu sein als wir."
Sie seufzte leise. "Ich erkenne mich wieder in deinen Worten. Auch ich glaubte einst, ein Niemand zu sein in den Straßen von Seyîn. Mit einem einzigen Ziel: zu überleben. Dieses Ziel habe ich niemals aufgegeben. Es trug mich durch die Wüste, die Qualen dort und wieder zurück bis nach Port Soles. Toyan hatte ein anderes Ziel. Er ein Jäger der Bruderschaft und wechselte die Fronten - weil er sich die Einigkeit Chomas als oberstes Ziel gesetzt hatte. So sagte er zumindest."
Sie sah Réigam fragend an. "Was ist dein Ziel in dieser Stadt? Oder ist es, dass du ziellos bist, dass du so negativ von der Zukunft und dir selbst denkst?"