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Toyan / Maleko
Port Soles
Ende Dezember im 145. Jahr des Lichtes
Morgen

Maleko nickte, machte nachdenklich "hmmm" und ging zu einem der hinteren Regale, in dem sich deutlich ältere Dokumente stapelten. Er zog drei staubige Stapel heraus.
"Der Ort ist nicht relevant. Sämtliche Aufgreifungen von Magiern wurden nach Port Soles übersandt. Es müsste also ein Dokument über Euren Bruder vorhanden sein. Wenn sich jeder einen Stapel vornimmt, geht es schneller."

Toyan staunte. Er hatte noch nie diese Aufzeichnungen gesehen, nie gewusst, was genau mit den Magiern geschah, die in die Hände der Bruderschaft gerieten. Er war schließlich selbst ein Teil ihres Systems gewesen. Aber ein dreijähriges Kind - hätte er einen dreijährigen Jungen ausgeliefert? Er wusste es nicht und das Unwissen bedrückte ihn. Er war nur froh, dass er diese Entscheidung heute nicht mehr treffen musste. Er würde niemanden mehr irgendwem ausliefern.
Vorsichtig zog er sich den ersten Stapel Unterlagen heran und begann zu lesen.

Réigam
Port Soles
Ende Dezember im 145. Jahr des Lichtes
Morgen

Auch Réigam ergriff einen Stapel und schlug die erste Seite auf. Er konnte nicht besonders gut lesen, aber gut genug, es würde nur ein bisschen dauern. Er überflog die Seiten auch mehr, als dass er sie las, denn er suchte vor allem den Namen Hannó - ihn würde er sofort erkennen. Nach der ersten Seite zögerte er, umzublättern. Ihm wurde gerade bewusst, wie es sein würde, wenn er die gesuchte Stelle fand. Er setzte sich auf den Boden und stellte die Kerze neben sich ab, das fand er sicherer. Nicht dass sie ihm vielleicht noch aus der Hand fallen und die ganze Bibliothek in Flammen aufgehen lassen würde. Nun wagte er es, die zweite Seite aufzuschlagen und weiter zu lesen.

Toyan / Maleko
Port Soles
Ende Dezember im 145. Jahr des Lichtes
Morgen

Eine Weile war es angespannt still, abgesehen vom Rascheln des alten Pergaments, auf das Name um Name geschrieben war. Name, Jahr der Aufgreifung, Daten zur Person und zum weiteren Prozess standen dort. Es war Maleko, der schließlich inne hielt und tief Luft holte.
"Ich denke, ich habe ihn gefunden", sagte er etwas bedrückt und reichte Réigam ein Pergament.

Name: Hannó
Alter: 3 Jahre bei Ergreifung. Einziges magisches Kind
Familie: Mutter, Vater, Bruder. Alle Sine.
Magie: Wasser
Prozess: Bannprozedur nach üblichen Standards. Tod trat am dritten Tag der Prozedur ein. Übergeben an die anonymen Gräber des Westfriedhofs.

Réigam
Port Soles
Ende Dezember im 145. Jahr des Lichtes
Morgen

Réigam nahm den Zettel nervös, aber Malekos Schweigen sagte schon viel. Mit zittriger Hand las er das Pergament. Er las langsam, weil er es nicht so gut konnte, und nochmal, um sicher zu sein. Dann ließ er den Zettel sinken und fragte mit schwacher Stimme:

"Was heißt 'Bannprozedur nach üblichen Standards'? Haben sie ihn gefoltert?"

Trotz allem war er gefasst. Er hatte damit gerechnet, aber die Gewissheit zu haben war doch nochmal etwas anderes.

Toyan / Maleko
Port Soles
Ende Dezember im 145. Jahr des Lichtes
Morgen

Toyan verfolgte die Übergabe des Papieres vorsichtig. Als Réigam dies dann bestätigte, sah er ihn mitfühlend an. Das war keine leichte Nachricht. Doch eine, mit der Réigam innerlich wohl bereits gerechnet hatte.
Auf dessen Frage nach Folter nickte Maleko leicht.
"Er war drei Jahre, also wird es nicht viel gebraucht haben. Bei dem Vorgang wird die Magie aufgespürt und von der Seele des Magiers getrennt. Diese Zweiteilung überlebt kaum jemand. Ich kenne nur zwei Fälle, in denen die Menschen weiter lebten. Doch für wie lange, ist mir nicht bekannt." Er sah Réigam bedauernd an. "Es tut mir sehr leid. Ich kann es nicht ungeschehen machen, doch ich trete dafür ein, dass die ehemaligen Mitglieder der Bruderschaft, auch ich in Person als ehemaliger Bannpriester, dafür in die Verantwortung genommen werden."

Réigam
Port Soles
Ende Dezember im 145. Jahr des Lichtes
Morgen

"Ihr meint, Ihr habt auch solche Prozeduren durchgeführt?"

fragte er Maleko mit zitternder Stimme. Dabei sah er ihn nicht direkt an, nur etwa in seine Richtung. Das Papier hatte er noch in der Hand, aber sein Arm hing schlaff an seiner Seite. Er dachte daran, wie der kleine Hannó, von seiner Familie getrennt und von Fremden umgeben, tagelang gelitten hatte, bevor er dann endlich gestorben war. Erst wurde ihm schlecht, dann schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass der kleine Junge wohl bei allem Leid gar nicht richtig begriffen hatte, was eigentlich mit ihm passierte. Tröstlich war dieser Gedanke aber nicht.

Maleko / Toyan
Port Soles
Ende Dezember im 145. Jahr des Lichtes
Morgen

Maleko atmete tief durch und nickte dann ziemlich unbehaglich.
"Am Anfang, ja - doch nie an Kindern. Da war ich noch hier in Port Soles. Doch schnell erkannte ich, dass diese Weg zu grausam ist. Ich ging nach Thyn, wurde dort Verwalter im Namen der Bruderschaft und mehr ein Rechtsprecher und Ratgebender. Dann kam Aylos zu mir, ein junger, verängstigtes Kind mit magischen Fähigkeiten. Ich lehrte ihn die Kontrolle und bildete ihn zugleich als Jäger aus um ihn vor der Bruderschaft selbst zu schützen."
Er sah schuldbewusst zu Réigam. "Wir können unsere Vergangenheit nicht ändern. Die Fehler bleiben bestehen. Doch wir können die Zukunft ändern. Auch Ihr. Wir können Euren Bruder nicht zurück holen. Aber wir können verhindern, dass so etwas jemals wieder mit Kindern und Menschen passiert."

Toyan nickte ernst und traurig. Aylos, er erinnerte sich gut an ihn. Er war mit Tazanna in der Wüste geblieben, ihrer vorletzten Station vor dem großen Kampf gegen Nalahr. Er hatte für sie sein Leben gegeben.
Vorsichtig sah er zu Réigam. Er hätte allen Grund, wütend zu werden und ihm, Toyan, den Rücken zu kehren. Toyan hoffte jedoch, dass es nicht so sein würde. Das erste Mal seit langem dachte er an das eingebrannte Mal der Bruderschaft als Zeichen des Jägers an seinem Handgelenk, welches er mit einem umwickelten Tuch bis heute verbarg.



______________________
*Jäger: Sine der Bruderschaft, die Magier aufspüren und an die Bannpriester übergeben. Sie haben ein besonders geschultes Gespür für Magie. Aylos konnte so eine Doppelrolle spielen, ohne selbst verfolgt zu werden oder andere Magier ausliefern zu müssen.

Réigam
Port Soles
Ende Dezember im 145. Jahr des Lichtes
Morgen

Réigam nickte langsam und antwortete Maleko dann leise, tonlos:

"Man kann ein Verbrechen einen 'Fehler' nennen. Dann hört es sich nicht so schlimm an, aber es ist trotzdem genauso schlimm, es wird nur verdeckt. Ob an Kindern oder an Erwachsenen, es ist trotzdem ein Verbrechen."

Er schnaufte durch und schaute jetzt dem Priester ins Gesicht.

"Ich glaube Euch, dass Ihr auch Gutes getan habt. Das letzte Gute war, dass Ihr mir gerade eben geholfen habt, das letzte Kapitel in der Geschichte meines Bruders zu lesen. (dabei hielt er den Zettel wieder hoch) Es macht böse Taten nicht ungeschehen, und ob es sie ausgleichen kann, wissen nur die Götter. Ich bin kein Richter, aber ich finde, dass es einen Richter geben sollte für diese Taten. Das würde Hannó nicht helfen, aber wenn die Täter bestraft würden, würden sich in Zukunft andere zweimal überlegen, ob sie auch solche Taten verüben wollen. Wenn es so einen Richter gäbe, müsste er entscheiden, ob eure guten Taten eure bösen Taten ausgleichen. Ich bin dankbar, dass diese Bürde nicht auf mir lastet. ... Aber ich bin auch kein Rächer, denn das würde Hannó genauso wenig helfen, und es würde auch sonst niemanden schützen. Jeder Mensch hat gute und böse Seiten. Wer bin ich denn, um über andere urteilen zu wollen? IHR habt Hannó nichts getan, aber Leute wie Ihr waren es, und diese Leute wurden dafür nicht gestraft, und Ihr habt wohl anderen Leuten Ähnliches angetan."

Er schaute zu Toyan.

"Diese Wunde klafft tief in unserem Land und in unserem Volk. Aceio sollte sich vielleicht lieber darauf konzentrieren, sie zu schließen, als... was immer er sonst tun mag."

Er schaute wieder zu Maleko.

"Ich danke Euch nochmals für Eure Hilfe. Und ich werde beten, für Euch und Euresgleichen, gute wie böse, dass ihren Seelen Gerechtigkeit wiederfahren möge."

Er gab ihm den Zettel zurück und sagte dann wieder zu Toyan:

"Ich würde gerne diesen Friedhof aufsuchen. Es wird sicherlich kein Grab geben, aber trotzdem..."

Maleko / Toyan
Port Soles
Ende Dezember im 145. Jahr des Lichtes
Morgen

Maleko war von dieser Ansprache in der direkten Art völlig überrascht. Toyan musste Réigam recht geben. Doch das hatte hier gerade keinen Platz. So nickte er sofort, als dieser ihn nach dem Friedhof fragte.
"Ich zeige ihn dir", sagte er sogleich. Réigam hatte Antworten, was Hannó betraf und allein dafür waren sie her gekommen. Nicht, um Gut und Böse des Volkes Chomas gegen einander aufzuwiegen. Auch wenn Toyan klar war, dass es eines Tages eine Aufarbeitung geben musste. Vielleicht sogar wirklich mit Gerichten. Doch wer sollten diese Richter sein? Es gab keine neutralen Personen - nur Verfolgte, Unterdrückte oder Jagende und Unterdrücker. War das das Los ihrer Generation?
Ehe er weiter darüber nach dachte, sah er Maleko dankbar an.
"Ich danke Euch für Eure Bereitschaft und Offenheit. Ich kenne den Ort, ich zeige ihn Réigam gern", sagte er. Ein weiteres Zusammensein von Réigam und dem einstigen Bannpriester war wohl nicht sehr förderlich. So reichte er Maleko die Unterlagen zurück und deutete ein Kopfnicken an. Dann wandte er sich wieder an Réigam.
"Gehen wir wieder nach oben. Der Friedhof liegt etwas außen vor und ich weiß nicht, wie viel nach der Zerstörung noch erhalten ist... wir werden sehen." Er hoffte, es war zumindest noch etwas erhalten und die Grabsteine waren noch nicht alle zu neuem Baumaterial verwendet worden.

Réigam
Port Soles
Ende Dezember im 145. Jahr des Lichtes
Morgen

"Gut, danke." antwortete er Toyan und folgte ihm nach oben. Bevor er den Raum verließ, schaute er nochmal zu Maleko und sagte zu ihm: "Ich danke Euch für Eure Hilfe. Wirklich. Ich sehe, dass meine letzten Worte Euch ... getroffen haben. Aber dieses Erlebnis hat mich darin bestärkt, alles zu tun, damit so etwas wie meinem Bruder nie wieder jemandem widerfahren wird. Ich glaube, Ihr hattet irgendwann eine ähnliche Erkenntnis. Vielleicht zu spät für manche, aber wohl noch rechtzeitig für andere. Diese Erkenntnis darf nicht verloren gehen, und indem Ihr mir geholfen habt, habt Ihr dazu einen Beitrag geleistet. Nochmals danke, dafür mehr noch als für alles andere."

Er nickte ihm nochmal zu, dann ging er hinaus. Auf dem Weg aus dem Tempel blieb Réigam erst einmal recht schweigsam - in seinem Kopf arbeitete es aber heftig. Er dachte nach, über seinen Bruder und über seine eigene Zukunft, was er jetzt tun wollte.